Großer Bahnhof zur Erinnerung

Am 16. Januar 1956 trafen die letzten Spätheimkehrer aus der Sowjetunion am Bahnhof in Herleshausen ein. Durch 32 solcher Transporte seit Oktober 1955 erhielten 7.818 Kriegsgefangene endlich ihre Freiheit wieder. Der Empfang, der den Ankommenden damals bereitet wurde, war überwältigend. Am vergangenen Sonntag erinnerte sich die Herleshäuser Bevölkerung an die Ereignisse von vor einem halben Jahrhundert. Der Zweigverein Südringgau im Werratalverein und die DRK-Ortsgruppe organisierten ein abwechslungsreiches Programm. Unterstützung erhielten sie von den örtlichen Kirchengemeinden. Gegen 17.00 Uhr bevölkerte eine Menschenmenge den kleinen Herleshäuser Bahnhof, wie sie seit der Wiederinbetriebnahme der Werratalbahn im Jahre 1991 dort nicht mehr gesehen wurde.

«Vergessen kann ich nicht, vergeben kann ich nicht, hassen will ich nicht», mit diesem Zitat aus dem Buch eines Spät-heimkehrers eröffnete Werratalvereinsvorsitzende Marion Bauer die Feierstunde im Bahnhofsgebäude. Sie betrachtete die Ereignisse von vor 50 Jahren, als das Werradorf in den Blickpunkt einer großen Öffentlichkeit rückte: Politische Abordnungen mit Hessens Ministerpräsident Dr. Georg August Zinn an der Spitze, örtliche Honoratioren wie Pfarrer und Bürgermeister sowie die Feuerwehrkapelle und singende Schulkinder sorgten für einen herzlichen Empfang. Das Rote Kreuz überreichte Willkommenssträußchen und übernahm die Versorgung der heimkehrenden Soldaten. Die heutige Bereitschaftsleiterin Helga Gogler zitierte aus den Aufzeichnungen der damaligen Rotkreuzleiterin Ingeborg Riebe über diesen spontanen Einsatz, der allerlei Improvisationskünste verlangte. Auch Günter Walter aus Gotha, Sohn des Lokführers Kurt Walter (Erfurt), der 1955 den ersten Zug mit Heimkehrern nach Herleshausen steuerte, wohnte der Gedenkfeier bei. Mit den Erinnerungen seines Vaters und eigenen Recherchen hat der Dipl.-Ing. für Eisenbahnbau ein interessantes, zeitgeschichtliches Dokument verfasst. Die Klänge des Posaunenchors der evangelischen Kirchengemeinde umrahmten den Auftakt der Veranstaltung.

Dann verließen die Gäste den Bahnhof, um gemeinsam das erste Wegstück zurückzulegen, auf dem vor 50 Jahren auch die Heimkehrerbusse ihre Fahrt nach Friedland aufnahmen. Auf der sog. «Straße der frohen Herzen» fuhren die Busse damals durch ein Spalier jubelnder Menschen über Eschwege nach Norden ins Lager Friedland (Niedersachsen), bevor die Angekommenen ihre endgültige Heimreise antraten. Bis zur Herleshäuser Burgkirche war der Weg an diesem frühen Sonntagabend von brennenden Kerzen erleuchtet. Am Heimkehrer-Gedenkstein hielt man kurz an, um weitere Grußworte zu hören: Dr. Hans-Peter Marsch, als Schüler beim Empfang in den 50er Jahren dabei und heute einer der Initiatoren sowie die politischen Vertreter Wilfried Wetterau (Kreistag) und Helmut Nölker (Gemeinde Herleshausen) erinnerten ebenfalls an die Ereignisse. Helmut Nölker legte in Vertretung für Bürgermeister Helmut Schmidt ein Gesteck der Gemeinde Herleshausen am Gedenkstein nieder. Den sich anschließenden Ökumenischen Gottesdienst feierten Pfarrer Dr. Bernd Jaspert (Ev. Kirche), Pfarrer Heribert Sauerbier (Kath. Kirche) und Pastor Michael Meißner (Ev. Freikirche) in der voll besetzten Burgkirche gemeinsam. Kirchenchor und Posaunenchor lockerten den Ablauf mit ihren Einsätzen auf.

Wie einen lebendigen Geschichtsunterricht setzte man das Programm in der Mehrzweckhalle des benachbarten Gemeinschaftshauses fort. Während an den Wänden Zeitungsausschnitte betrachtet werden konnten, waren es aber vor allem auch die beiden Filme, die ein authentisches Gefühl der damaligen Zeit vermittelten. Zunächst widmete sich eine Dokumentation der ARD aus dem Jahre 2003 dem Thema. Als noch wertvoller erwies sich aber das Bildmaterial, das Filmamateur Erich Schwenger festgehalten hat. Der Eschweger begleitete die Heimkehrer von Herleshausen bis nach Friedland und verewigte zahlreiche emotionale Momente auf Schmalfilm. Dank DVD-Technik und der neuen Großbildleinwand wurden die von Dr. Michael Neitzel vorgeführten Aufnahmen zu einem wichtigen Zeugnis. Gleiches gilt für die Wortbeiträge, die sich im Folgenden anschlossen. Der von Marion Bauer eingangs zitierte Buchautor und damalige Heimkehrer Werner Minkenberg (Bebra) war persönlich anwesend und schilderte seine Eindrücke von der Ankunft in Herleshausen: «Es war alles wie im Traum, als wenn man auf Wolken schweben würde.» Er nutzte die Gelegenheit, um sich noch mal besonders bei den Frauen des Roten Kreuzes für den warmherzigen Empfang zu bedanken. «Das war Balsam auf die wunden Seelen.» Zwei der Angesprochenen konnten den Dank an diesem Tag sogar noch persönlich entgegennehmen. Dass es in jenen Herbsttagen ´55 aber nicht nur glückliche Gesichter gab, brachte Siegfried Lieske aus Neuenhof zum Ausdruck. Der Ortsbürgermeister des Werradorfs berichtete, wie er mit seiner Familie vergeblich auf die Rückkehr des Vaters wartete. So wie bei ihm erloschen damals viele Hoffnungsfunken. Glück und Leid lagen dicht beieinander. Auch für den Verfasser dieser Zeilen war es ein bewegender Moment, als er am Sonntagabend im Amateurfilm überraschend das Schild entdeckte, mit dem seine Oma am Bahnhof vergeblich auf seinen Opa wartete …

«Vergessen kann ich nicht» – unter dieses Motto stellten die Organisatoren in Herleshausen ihr Bemühen, verbunden mit der Hoffnung, künftigen Generationen möge ein ähnliches Schicksal erspart bleiben. Und diese Gedenkfeier war ein gelungener Schritt, Erinnerung wach zu halten, bzw. diese Thematik jüngeren Menschen bewusst zu machen. Die Initiatoren um die beiden Hauptverantwortlichen Marion Bauer und Helga Gogler bedanken sich bei allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben, insbesondere auch bei den Jugendlichen von «Second Home» und den DRK-Mitgliedern für die Unterstützung bei der Bewirtung. Den kompletten Wortlaut der beiden Ansprachen im Bahnhof findet man unter «Aktuelles» auf der Seite des http://www.tsv-herleshausen.de/index2.htm(TSV 1869 Herleshausen). Eine kleine Broschüre mit dem Titel «Ankunft der Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegs-gefangenschaft – 12.10.1955 bis 16.1.1956», zusammengestellt vom Kulturwart des Werratalvereins, Helmut Schmidt, ist bei der Gemeindeverwaltung Herleshausen erhältlich.