Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wird in Eisenach wachgehalten

Erinnerungskultur ist wichtig. Gerade an solch sensiblen Gedenktagen wie den 17. Juni. Er lehrt uns vor allem eines: Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich. Beides muss man sich jeden Tag immer wieder ein kleines Stückchen erkämpfen, mit diesen Worten beendete Landtagsabgeordneter Raymond Walk (CDU) die gemeinsame Gedenkveranstaltung von SPD, CDU und Stadtverwaltung auf dem Eisenacher Theaterplatz in Erinnerung des Volksaufstandes in der ehemaligen DDR am 17. Juni 1953.

Pfarrer Armin Pöhlmann von Kirchenkreis Eisenach-Gerstungen sprach ein Gebet. Michael Klostermann von der Eisenacher SD rief in seiner Gedenkrede die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau in Erinnerung:

Wir tun gut daran, das Erbe des 17. Juni wach zu halten und hochzuhalten. Der mutige, der spontane und von Menschen aus allen Schichten und Generationen des Volkes getragene Aufstand ist einer der großen Wegmarken deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte. Der Einsatz für Freiheit, Demokratie und Einheit sollte uns dauerndes Vorbild sein.

Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkveranstaltung durch die Familie Heinze von der Eisenacher Musikschule. Raymond Walk wünschte sich, dass künftig auch die „Bürger für Eisenach“ und die „Grünen“ sich an diesem Gedenken beteiligen.

Susanne Köhler hatte im Namen der Eisenacher SPD als ehemalige Westdeutsche mit ganz persönlichen Worten alle herzlich begrüßt:

Tatsächlich habe ich nachgerechnet und festgestellt, dass ich genau jetzt die eine Hälfte meines bisherigen Lebens im Westen verbracht habe und die andere im Osten. Jedes Jahr am 17. Juni haben meine Eltern im nordrheinwestfälischen Hamm ihre drei Töchter beiseite genommen und ihnen geschildert, wie sie den 17. Juni 1953 erlebt haben und welche Bedeutung er für sie hatte. Meine Eltern, deren Verlobung auf den Tag des Mauerbaus fiel und davon überschattet wurde, haben nie aufgehört, an die deutsche Wiedervereinigung zu glauben. Sie waren sich nicht sicher, ob sie es selbst noch erleben würden, und nun leben zwei ihrer drei Töchter seit mehr als 20 Jahren im Osten Deutschlands. Was meinen Eltern und mit wachsendem Verständnis auch mir den größten Respekt abverlangt hat, war der Mut der Menschen, die am 17. Juni 1953 aufbegehrt und sehenden Auges Repressionen in Kauf genommen haben. Weltweit gibt es auch heute Beispiele für diesen besonderen Mut – zu einer Demonstration aufzubrechen und nicht zu wissen, ob man danach unbeschadet oder überhaupt nach Hause kommt, das ist etwas, was im heutigen Deutschland kaum vorstellbar ist. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung können wir gar nicht hoch genug schätzen, und wir brauchen sowohl in Ost als auch in West Menschen, die unsere Demokratie weiterhin verteidigen gegen alle, die sie angreifen oder negieren.

Bauarbeitern eines SED-Prestigeobjektes platzte der Kragen
In seiner Gedenkrede ließ Michael Klostermann, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Eisenacher Stadtrat und Chef der Sozialdemokraten im Wartburgkreis, die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 noch einmal Revue passieren. Die instabile SED-Diktatur sei seinerzeit nur durch das Eingreifen sowjetischer Panzer gerettet worden.

Eine spontane Massenerhebung, eine kollektive Volkserhebung ohne zentrale Führung und einheitlich Strategie, beschrieb Michael Klostermann die Geschehnisse und ging auf die Auslöser ein.

Der Beschluss des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus in der DDR durch die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 führte zu gravierenden Folgen: Versorgungskrise durch Ausbau der Schwerindustrie auf Kosten des Konsumgütersektors (Mangel an Lebensmitteln), flächendeckende Enteignungen zur Kollektivierung in der Landwirtschaft (LPGs), Zerschlagung von rentablen Großbetrieben, steuerliche Zwangsmaßnahmen gegen Handwerker und private Gewerbetreibende, mit dem Ziel der Aufgabe der Selbständigkeit,  Arbeitskräftemangel durch den Aufbau der kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der NVA. Tausende DDR-Bürger stimmten mit den Füßen ab und verließen das Land, auch um repressiven Maßnahmen zu entgehen. Als unmittelbarer Anlass kann der Tod Stalins im März 1953 und die Erhöhung der Arbeitsnormen, einer faktischen Lohnsenkung um 10 Prozent, bezeichnet werden. Ausgerechnet den Bauarbeitern des SED-Vorzeigeprojektes Ostberliner Stalinallee platzte zuerst der Kragen und gingen auf die Straße. Neben wirtschaftlichen Forderungen (Rücknahme Normerhöhungen und Beendigung der Konsumgüterkrise) traten politische Forderungen (freie Wahlen, Pressefreiheit, Auflösung der kasernierten Volkspolizei, Rücktritte von Ulbricht und Grotewohl, nationale Einheit und Aufhebung der Zonengrenze, Zulassung der demokratischen Parteien Westdeutschlands in der DDR) in den Vordergrund.  Der Funke sprang von Ostberlin in die Provinz über, erfasste 700 Städte und Gemeinden, weitete sich zu einem „Flächenbrand“ aus. Vielfach waren es ehemalige Sozialdemokraten und aus der SED ausgeschlossene Mitglieder, die bei den Demonstrationen aktiv wurden. SED-Parteizentralen, Polizeigebäude und Rathäuser wurden erstürmt. Mehr als eine Millionen Menschen schlossen sich den Aktionen an;  nicht nur Arbeiter, sondern auch Bauern, Angestellte, Hausfrauen, Verkäuferinnen – und sogar SED-Mitglieder und Polizeikräfte. In Gera wurde das Gebäude der Stasi-Untersuchungshaft gestürmt. Die SED-Spitze flüchtete in den Schütz der Sowjetarmee. „Der große Bruder“ verhinderte den Sturz des SED-Regimes. Kriegsrecht und Ausnahmezustand wurden in 167 von 217 Kreisen verhängt. Sowjetische Panzer rollten auf, schlugen den Volksaufstad nieder. Mindestens 55 Todesfälle sind bekannt, 20 weitere Todesfälle blieben ungeklärt, mindestens 26 Personen wurden hingerichtet, vielfach Jugendliche und Jungerwachsene.  Eine Verhaftungswelle und Schnellgerichtsverfahren liefen mit großer Eile an. Etwa 1500 Personen wurden zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt. Eine neue Fluchtwelle wird ausgelöst. Mehr als 320.000 Menschen verlassen den selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat. Erst der Bau der Mauer 1961 verhindert den drohenden Exitus. Der Überwachungsstaat wird ausgebaut, mit Staatssicherheit sowie Kampfgruppen in den Betrieben. Die SED wird „gesäubert“, insbesondere von ehemaligen Sozialdemokraten. Der ehemalige Justizminister Max Fechner wird seiner Funktion enthoben und inhaftiert. Die Funktionsebene wird flächendeckend ausgetauscht. Auf einer Solidaritätskundgebung in Paris hieß es, „die Arbeiter von Berlin haben Deutschland seine Würde wiedergegeben.“

Nur wer die Geschichte kennt, kann die Zukunft gestalten
Die Erinnerung an die Ereignisse von 1953 bezeichnete Eisenachs Dezernent Ingo Wachtmeister (SPD)  als eine wesentliche Voraussetzung, um auch zukünftig für Freiheit, Menschenwürde und Demokratie einzutreten.

Während meine Generation noch im Bewusstsein aufwuchs, nicht weg zu können, leben das vereinte Deutschland und die erste Generation dieses geeinten Landes ohne die Grenze in den Köpfen. Für meine Kinder und ihre Generation ist nicht mehr wichtig, wie dieses Gesamtdeutschland genau entstand. Wichtig ist einzig und allein, dass es existiert. Jeder kann leben, arbeiten und studieren wo er möchte. Ob der Lebensmittelpunkt nun an der Ostsee oder in den Alpen, im Ruhrpott oder aber in Eisenach, der Mitte Deutschlands, liegt, uns stehen alle Türen offen. Gesamtdeutsche Freundschaften und das Denken in gesamtdeutschen Dimensionen sind mittlerweile alltäglich und sie sind das, was den Unterschied macht zwischen 1953 und heute. Nur wer die Geschichte kennt, kann die Zukunft gestalten. Für die Zeitzeugen ist es wichtig zu sehen, dass bis heute Jugendliche den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie kennen und aus der Geschichte lernen. Besonders der jungen Generation muss vermittelt werden, wohin Diktatur und Extremismus führen. Kinder und Jugendliche sollen begreifen, welch hohes Gut die Grundwerte unserer Gesellschaft – wie Freiheit und Demokratie – sind, erklärte Familienvater Ingo Wachtmeister.

Th. Levknecht

 

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