Verantwortung für das jüdische Erbe

Stadt Eisenach erhält den Nachlass ihrer Ehrenbürgerin Avital Ben-Chorin

Eigentlich ist es nur ein formaler Akt, die Unterzeichnung eines Nachlassvertrages. Doch mit dem Nachlass von Avital Ben-Chorin, der seit dem 20. September offiziell der Stadt Eisenach gehört, ist viel mehr verbunden. Es geht um die Pflege des jüdischen Erbes, die Pflege der jüdischen Geschichte der Stadt und einem Bekenntnis zur eigenen Geschichte.

Es erwächst eine Verantwortung, von dieser Geschichte zu erzählen, sagte Oberbürgermeisterin Katja Wolf.

Sie begrüßte den neuen Bischof der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, der seinen Antrittsbesuch im Rathaus der Stadt nutzte, um an der Feierstunde teilzunehmen. Mit dabei waren auch Ute Lieske (ehemalige Sozial- und Kulturdezernentin der Stadt Eisenach) und der ehemalige Oberbürgermeister Hans-Peter Brodhun. Die ehemaligen Oberbürgermeister Matthias Doht und Gerhard Schneider ließen herzliche Grüße ausrichten und hatten jeweils einen Brief mit sehr bewegenden Worten an Ariela Kimchi verfasst.

Katja Wolf unterzeichnete anschließend gemeinsam mit Avital Ben-Chorins Tochter, Ariela Kimchi, den Nachlassvertrag. Darin ist geregelt, dass die Nachkommen der Eisenacher Ehrenbürgerin den Nachlass der Verstorbenen der Stadt Eisenach schenken. Mit einem ebenfalls unterzeichneten „Letter of Intent“ wurde vereinbart, dass die Nachkommen auch perspektivisch weitere Stücke aus dem Nachlass der Stadt schenken können. Dazu Ariela Kimchis Halbbruder Rabbiner Dr. Tovia Ben-Chorin:

Wir erleben im Moment etwas, was uns sehr wichtig ist. Dafür sind wir dankbar. Eisenach hat es verstanden, Avital das zu geben, was sie verdient.

Authentischer Blick in die Vergangenheit
Nachlässe ermöglichen einerseits einen authentischen Blick in eine sehr persönliche Vergangenheit, sie offenbaren andererseits ein Lebenswerk. So auch bei Avital Ben-Chorin. Zu ihrem Nachlass gehört zum Beispiel ihr Lieblingsbuch „Peterchens Mondfahrt“ und ein Poesiealbum. Beide Stücke sind seit Donnerstag in einer Vitrine in der Goetheschule zu sehen. Ein Opernglas der Firma Linsenbarth-Optik gehört ebenfalls zum Nachlass. Ergänzt werden diese ganz persönlichen Erinnerungsstücke durch zahlreiche Informationen zur jüdischen Geschichte Eisenachs und Bilder, die vielleicht wie keine andere Quelle das Schicksal einer jüdisch-deutsch-israelischen Familie widerspiegeln. Die Bilder sind bereits im Stadtarchiv der Stadt Eisenach digitalisiert. In einem nächsten Schritt werden die vorhandenen Objekte inhaltlich erschlossen und verzeichnet. Auf den Internetseiten archive-in-thueringen.de und findbuch.net soll danach der Inhalt des Nachlasses online gestellt werden.

Bereits jetzt können Teile des Nachlasses angesehen werden: In der Goetheschule steht eine Vitrine im Erdgeschoss, die ausgewählte Erinnerungsstücke Avital Ben-Chorins enthält. Weitere Teile des Nachlasses sind in der Ausstellung „Erforschung und Beseitigung. Das kirchliche ‚Entjudungsinstitut‘ 1939-1945“ des Lutherhauses bis Ende 2021 zu sehen. Weitere Teile des Nachlasses werden in erster Linie der Forschung zur Verfügung gestellt.

Das Eisenacher Stadtarchiv verfügt bereits über umfangreiches Material an Nachlässen und Teilnachlässen sowie Sammlungen zur jüdischen Geschichte der Stadt. Dazu gehört der Nachlass Löwenstein, Theobald Speyer, Grünbaum sowie eine Sammlung von Judaica mit zahlreichen Kopien und Originaldokumenten zur jüdischen Vergangenheit der Wartburgstadt.

Eisenacher Ehrenbürgerin Avital Ben-Chorin
Als Tochter von Alfred und Herta Fackenheim wurde Avital, damals Erika, 1923 in Eisenach geboren. Ihr Großvater war der in der ganzen Region beliebte und geachtete Arzt Dr. Julius Fackenheim.

Erika war 13, als sie 1936 Deutschland aufgrund der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung verließ. Im damaligen Palästina, dem späteren Israel, fand sie eine neue Heimat. Und doch blieb sie, die seit 1943 mit dem großen jüdischen Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin verheiratet war, Eisenach immer verbunden. Getragen von dem Geist einer christlich-jüdischen Verständigung, besuchte sie 1986 mit ihrem Mann auf Einladung der Kirche erstmals wieder Eisenach. Es war eine Begegnung, die ihr nicht leicht fiel. Immer wieder bewegte sie damals beim Anblick älterer Eisenacher die Frage, ob und inwieweit dieser oder jener vielleicht in die Judenverfolgung damals verstrickt gewesen sein könnte.

Die Erinnerung an jenen Lehrer, der sie an der damaligen Charlottenschule mit nahezu pathologischem Hass verfolgt hatte und dem sie 1936 entfloh, saß tief. Und dennoch kehrte sie nach 1986 immer wieder in ihre alte Heimat zurück. Dabei spielte ihre feste Überzeugung eine Rolle, dass man die Enkel nicht für die Taten der Großeltern verantwortlich machen könne. Sie hoffte im Hinblick auf die notwendige Aussöhnung auf die junge Generation. So überrascht es nicht, dass sie später eine besondere Beziehung zu den Schülern und Lehrern ihrer früheren Schule, der heutigen Goetheschule, pflegte.

Ihre Besuche in Eisenach waren für alle Beteiligten immer emotionale und gedanklich besondere Begegnungen, sei es zu den Eisenacher jüdischen Begegnungswochen 1995, 1999 und 2001, zu den Gedenkveranstaltungen am 9. November, zu Veranstaltungen der Goetheschule oder zu öffentlichen Vorträgen. Ihre Beziehung zur Wartburgstadt war aber auch getragen von ihrer Jahrzehnte andauernden Jugendfreundschaft mit der Eisenacherin Christa Jordan, verheiratete Schill.

Ein ganz besonderer Moment war es, als ihr die Wartburgstadt am 11. August 2012 die Ehrenbürgerwürde verlieh; sie war die erste nach fast 50 Jahren, der diese Ehre zuteilwurde.

Trotz leidvoller Erfahrungen hat sie stets den Gedanken der Versöhnung und der Partnerschaft von Israelis und Deutschen, von Juden und Christen gepflegt, begründete seinerzeit Eisenachs Oberbürgermeisterin Katja Wolf die hohe Auszeichnung.

Durch diese zutiefst humanistische Haltung hat Avital Ben-Chorin über drei Jahrzehnte hinweg auch die Menschen in ihrer Geburtsstadt Eisenach geprägt. Die so Geehrte erwiderte anlässlich der Verleihung des Ehrentitels:

Mit mir stehen alle Eisenacher Juden hier, die Geschundenen und Gemordeten. Auch für sie nehme sie stellvertretend die Auszeichnung entgegen. Sie sei dankbar, überlebt zu haben und zur Versöhnung beitragen zu können.

Die große Vermittlerin zwischen den Religionen, zwischen den Generationen, zwischen den Nationen, starb am 6. Oktober 2017. Eisenach wird ihr Andenken in Ehren bewahren.

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