Zwischen Spießbürgertum und Widerstand

Ein Leserbrief zum EOL-Kommentar Zwischen Abi und Kindergarten

Im altbekannter Manier ist zu beobachten, dass nach den sog. „Abistreichen“ sowohl in den sozialen Netzwerken als auch in der Presse eine (größtenteils spießbürgerlich belehrende Diskussion) über Sinn und Unsinn genannter Aktivitäten entbrennt. Im Regelfall kommen hier natürlich nicht die betroffenen und handelnden Akteur*innen, sondern vollkommen unbeteiligte zu Wort. Dies ist natürlich nichts ungewöhnliches, betrachtet man den Fakt, dass „Presse“ im Allgemeinen über andere berichtet und auch urteilt. Im Allgemeinen sehen sich Redakteur*innen jedoch der Maxime gegenübergestellt, nach bestem Wissen, was natürlich nur aus einer tiefgründigen Recherche heraus möglich ist, ein Ereignis zu kommentieren. Dieses Bemühen ist in genanntem Kommentar kaum erkennbar.

Dazu einige Erläuterungen. Im Artikel wurde richtig erkannt, dass das Maß der Sticheleien von Jahr zu Jahr variiert. Streitbar ist jedoch, ob das Ablegen eines „Haufens“ vor einer Schule eine Vorstufe für das Beschmieren einer Tür mit Ketchup ist, denn offensichtlich konnte diese Tat im Nachhinein schnell bereinigt werden. Fraglich ist außerdem, warum der Autor in Kategorien von „die Polizei kommt“ oder „die Polizei kommt nicht“ argumentiert. Welcher Maßstab wird angelegt, wenn das Hinzuziehen der Polizei, welche bei einem Ruf gesetzlich verpflichtet ist auszurücken, zur Einstufung der „Schwere der Tat“ herangezogen wird?

Klar ist, dass die Täterinnen keine Konsequenzen zu befürchten haben, da sie keinen nachhaltigen Schaden angerichtet haben. Wieder auf moralischer Weise argumentierend nimmt der Autor Kraft seiner Entscheidungsgewalt den „Ketchup-Täterinnen“ die moralische Rechtfertigungsgrundlage, weil es ja noch „die LSD-Party im Club Night und die eine oder andere Aktion“ gibt. Wer urteilt jedoch darüber, ob eine Handlung angemessen, notwendig, erlaubt ist oder nicht? Welche Bedeutung hat beispielsweise die Bezeichnung „LSD-Party“? Ist die gezielte Wahl einer psychoaktiven Droge als Namensvetterin nicht ein eindeutiger Hinweis auf die Motivation, auf den Sinn genannter Aktivitäten? Die Vermutung, dass es sich bei all diesen Akteur*innen um geistig zurückgebliebene Angehörige eines „Kindergartens“ handelt, ist kaum haltbar, wenn man sich bemüht „hinter die Fassade“ zu schauen. Gegenteilig ist doch viel mehr davon auszugehen, dass es sich hierbei viel mehr um Bürger*innen handelt, welche sehr wohl einen „Reifezustand“ erreicht haben. Sie sind nämlich in der Lage, ihr Unbehagen über ein teilweise verkrustetes Bildungssystem zum Ausdruck zu bringen. Die Wahl der Aktionsformen sollte nicht das Hauptaugenmerk der Berichte sein, auch wenn dies gewiss am Einfachsten zu sein scheint. Eine Instrumentalisierung der Aktionsform mit dem Ziel, die eigentliche Motivation zu vertuschen, verbietet sich! Natürlich verhalten sich die Schüler*innen „kollegial“, weil sie sich gewiss nicht selbst attackieren wollen, sondern ihr Unbehagen über Situationen zum Ausdruck bringen, ausbrechen wollen. Konstruktive Möglichkeiten verwehren die Schulen meist.

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Es liegt nicht im Ermessen des Autors zu urteilen, ob der Autokorso und die LSD-Party reichen, oder nicht. Der Widerspruch, dass „Spaß“ erlaubt werden muss, tritt hier offensichtlich hervor. Eine Debatte hierrüber findet leider nicht statt.

Krönend suggeriert der Autor zum Ende hin, dass das Abitur der höchste Schulabschluss des Bundes sei, und sich einige durch ihr „Fehlverhalten“ als „Leistungsträger“ disqualifizieren. Diese Unterstellung ist natürlich nicht nur in Hinblick auf die vom Autor angenommenen Vorstellungen der „Wertigkeit“ von Ausgebildeten oder Menschen im Allgemeinen kritisch zu betrachten. Der Umstand, dass die Schüler*innen relativ „ungeformt“ mit 6 Jahren in das Schulsystem einsteigen und dass dieses vom Autor definierte „Fehlverhalten“ doch vielmehr ein Produkt (!), eine Folge des auf Leistungsdruck ausrichtenden Gymnasiums zu sein scheint, wird der Maxime des Artikels folgend vollkommen ignoriert.

In der Konsequenz stellt sich die Frage, ob in der Grundannahme des Artikels überhaupt Platz für Ausdrucksformen einer Meinungsäußerung außerhalb der eigenen Form bleibt und welche Motivation den Autor beherrscht.

Felix Fink aus Eisenach