Bach und Mendelssohn: Bedeutsamer
Ankauf bereichert Bachhaus-Sammlung

Das Bachhaus Eisenach hat 62 originale handschriftliche Chorstimmen von 1829 angekauft. Sie wurden angefertigt für Mendelssohns legendäre Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion in der Berliner Sing-Akademie. Von dem Material dieser Aufführung befanden sich bislang lediglich acht Stimmen in Deutschland. Eine Auswahl wird ab dem 14.2. für sechs Wochen im Berliner Dom ausgestellt, nur wenige Meter vom Originalschauplatz entfernt. Mendelssohns Aufführung gilt als das bedeutsamste Ereignis der Bach-Aufführungspraxis nach 1750 und als «Urknall der Bach-Renaissance».

Hätte Mendelssohns Großmutter ihm nicht zum dreizehnten Geburtstag eine Abschrift von Bachs Matthäus-Passion geschenkt, wer weiß, was aus ihm geworden wäre – nicht aus Mendelssohn, sondern aus Bach. Denn Bachs Musik war zwar nie völlig vergessen. Seine Klaviermusik diente schon seit 1802 als beliebtes Übungsmaterial. Doch erst die Aufführung der Matthäus-Passion in der Sing-Akademie zu Berlin am 11. März 1829 unter dem 20-jährigen Mendelssohn, erstmals seit Bachs Tod, verhalf Bachs Musik zum Durchbruch. Mendelssohn hatte sich gegen seinen Lehrer Zelter durchgesetzt, der das Werk für «zu borstig» für zeitgenössische Ohren hielt. Die Aufführung war ein spektakulärer Erfolg: Im Publikum saßen neben dem preußischen König und seinem Hofstaat der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Theologe Friedrich Schleiermacher, der Dichter Heinrich Heine. Das Konzert war ausverkauft – über 1000 Berliner mussten abgewiesen werden – und wurde zweimal wiederholt. Zeitungen sprachen von dem «höchsten, welches Deutsche Kunst hervorgebracht hat». Mendelssohns Tat gilt als der «Urknall der Bach-Renaissance», der erst nationalen, dann internationalen Begeisterung für Bachs Musik, die bis heute anhält.

Mendelssohn hatte für seine Aufführung handschriftliche Stimmen aus der Partitur fertigen lassen, aus denen das Orchester und der 158-köpfige Chor das Werk aufführten. Sie wurden bei den Berliner Aufführungen verwendet, und erneut 1841 bei Mendelssohns Aufführung der Matthäus-Passion in der Leipziger Thomaskirche. Nach Mendelssohns Tod ging das Material nach London – 1854 führte die British Bach Society daraus die Matthäus-Passion erstmals in Großbritannien auf. Von dort kehrte es nicht wieder nach Deutschland zurück. Die Partitur, einige Orchesterstimmen und acht Chorstimmen fanden ihren Weg in die Bodleian Library in Oxford, weitere acht Chorstimmen besitzt das Royal College of Music in London. Der Rest verstreute sich. Acht Chorstimmen konnte das Leipziger Mendelssohn-Haus vor 12 Jahren erwerben – das war alles, was sich von dem bedeutendsten Ereignis der Bach-Aufführungsgeschichte seit 1750 bislang in Deutschland befand. 16 Chorstimmen gelangten 2011 in eine Auktion bei Sotheby’s in London. Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder bot das Bachhaus damals 26000 Pfund. Vergeblich: sie gingen für 45000 Pfund an einen Telefonbieter – schmerzlich für das Museum, in man seit März 2012 eine rekonstruierte Fassung von Mendelssohns Aufführung sogar filmisch erleben kann.

Als ein Sammler im vergangenen Dezember 62 originale Chorstimmen aus Mendelssohns legendärer Aufführung über ein Stuttgarter Musikantiquariat anbot, war man im Bachhaus folglich wie elektrisiert. Innerhalb weniger Stunden meldete man sich – und war Erster. Für die Finanzierung des Kaufpreises in Höhe von 65000 € gewann man die Johann-Sebastian-Bach-Stiftung in Leipzig (12000 €) und die Neue Bachgesellschaft (10000 €), der Freistaat Thüringen hat weitere 21000 € in Aussicht gestellt. Das restliche Drittel trägt das Bachhaus vorläufig aus seinem Haushalt. «Keine Frage – das ist der wichtigste Musikalienankauf des Bachhauses seit wenigstens 50 Jahren», erklärt Bachhaus-Direktor Dr. Jörg Hansen.
Glückwünsche übermittelte der Mendelssohn-Forscher Peter Ward Jones aus Oxford, das Leipziger Mendelssohn-Haus, und der Leiter der Mendelssohn-Gesamtausgabe der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Dr. Ulrich Wehner.

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Eine Auswahl der neuerworbenen Stimmen wird ab dem 14. Februar in der Ausstellung des Bachhauses «Bachs Passionen» im Berliner Dom gezeigt. Dieser liegt nur wenige Schritte enfernt vom Originalschauplatz von 1829, der Sing-Akademie (heute: Maxim-Gorki-Theater). Demonstriert werden hier auch die romantischen Eingriffe Mendelssohns: So wurde ein Akkord im Choral «Wenn ich einmal soll scheiden» (einer Strophe aus Paul Gerhardts «O Haupt voll Blut und Wunden») von den Altistinnen nachträglich mit Bleistift von Dur zu Moll verändert. Das übrige Material wird vom Bachhaus zunächst den Forschern von der Leipziger Sächsischen Akademie der Wissenschaften zur Verfügung gestellt, die bereits begierig darauf warten, solche Eingriffe zu studieren, die Schreiber zu identifizieren, und weitere Erkenntnisse (etwa zur Chorbesetzung) zu gewinnen.

«Bachs Passionen». Ausstellung des Bachhauses Eisenach im Berliner Dom. 14.2.-7.4.2013

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