Wir waren eine verschworene Gemeinschaft

Wolfgang Heyer war 45 Jahre Physiotherapeut bei Motor und dem ThSV Eisenach/  Der „Mann mit den goldenen Händen“ feierte jetzt seinen 80. Geburtstag

Wir waren bei Motor Eisenach eine verschworene Gemeinschaft.

Der Mann, der das sagt, muss es wissen. Wolfgang Heyer war wohl Deutschlands dienstältester Physiotherapeut im Handballsport. Von 1960 bis 2005 war er der Physiotherapeut von Motor und nach der politischen Wende vom ThSV Eisenach. Er feierte jetzt seinen 80. Geburtstag. Schon am Vormittag klingelte eine kleine Abordnung des ThSV Eisenach an seiner Wohnungstür, gratulierte ganz herzlich, überbrachte beste Grüße des Vorstandes um Präsident Gero Schäfer und des gesamten Vereins, ein kleines Präsent und natürlich alle guten Wünsche für die weiteren Jahre. Gemeinsam mit seiner Frau Uschi, die er während der Ausbildung 1955 kennenlernte, genießt er die Freuden (und auch Pflichten) eines Opa, Uropas und Uropas. Die jüngsten Sprösslinge sind 3 sowie jeweils ein Jahr jung.

Wenn Wolfgang Heyer über seine Zeit bei Motor und dem ThSV Eisenach zu sprechen kommt, funkeln noch heute seine Augen vor Begeisterung. Er verschweigt aber auch nicht, dass seine Familie oftmals zu kurz kam, er bei Jugendweihe- oder Konfirmationsfeiern vorfristig seine Tasche griff und sich auf den Weg machte, zu einem „ganz wichtigen“ Auswärts- oder „ganz wichtigem“ Heimspiel machte. Ohne das Verständnis seiner Uschi wäre das nicht möglich gewesen.

Die neue AWE-Betriebspoliklinik rief Wolfgang Heyer nach Eisenach
Dabei kam sein Engagement im Eisenacher Sport eher zufällig zustande. Nach der Ausbildung fanden Wolfgang und Uschi eine Anstellung im Solebad Bad Salzungen. Das Automobilwerk in Eisenach eröffnete im Jahr 1958 seine neue Betriebspoliklinik, in der die nahezu 10.000 Beschäftigten medizinisch versorgt wurden. Ab 02.01.1958 war Wolfgang Heyer in der AWE-Betriebspoliklinik tätig. Zwei Jahre später kam der in Thüringen bekannte Fußballtrainer Martin Schwendler vom FC Rot-Weiß Erfurt zu den Liga-Fußballern der BSG Motor Eisenach. Er suchte händeringend einen qualifizierten und tüchtigen Physiotherapeuten. In Wolfgang Heyer fand er ihn. Wolfgang Heyer ließ fortan nach seiner Arbeitszeit in der AWE-Poliklinik den Fußballern und kurz darauf auch  den Handballern von Motor Eisenach seine „goldenen Hände“ zuteilwerden. Nach Arbeitsschluss um 16.10 Uhr folgte die „Zusatzschicht“. Oftmals kam Wolfgang Heyer erst um 20.30 Uhr nachhause.

Da schliefen bereits die Kinder, erinnern sich Wolfgang und Uschi Heyer.

Generationen Eisenacher Handballer gingen durch seine Hände
Während seiner Zeit bei Motor Eisenach gingen sprichwörtlich ganz viele Handballer durch seine Hände. Hermann und Peter Zöllner, Rainer und Karsten Lehmann, Horst Ehrhardt, Frieder Singwald, Lutz Sinke, Rainer Osmann, Gerhard Wagner, Axel Prill, Steffen Wohlrab, Edmund Nositschka, Jochen Mascher, Lutz Westram und viele mehr. Er unterstützte, gemeinsam mit dem langjährigen Mannschaftsleiter Werner Hering, die Trainer Horst Schmitt und Hans-Joachim Ursinus. Zu DDR-Erstligazeiten fanden am Wochenende stets je zwei Punktspiele statt, samstags um 16.00 Uhr und sonntags um 11.00 Uhr. Samstags beispielsweise in Magdeburg und sonntags in Dessau oder samstags in Berlin und sonntags in Frankfurt/Oder. Analog war es dann mit den Heimspielen, die – man glaubt es heute nicht – in der Jahnsporthalle, einem ehemaligen Pferdestall der kasernierten Volkspolizei, stattfanden.

Fast alle Gastmannschaften hatten einen Horror auf Spiele in Eisenach, berichtet Wolfgang Heyer.

Da waren Kabinen im Keller ohne Behandlungsliege für den Physiotherapeuten, da waren ebenso die heißblütigen bis auf die Seitenlinie (und auch darüber hinaus) stehenden Motor-Anhänger, bis zu 500 an der Zahl, in der Halle und von außen an den Fenstern. Der SC Magdeburg, der SC Dynamo Berlin aber auch die BSG-Mannschaften Post Schwerin und ZAB Dessau hatten zu dieser Zeit bereits handballerstligawürdige Sportstätten.

In den Spielen gegen Dynamo Berlin brannte die Luft, berichtet Wolfgang Heyer, der natürlich manche „Story“ zum Besten geben kann.

Anfangs war die Mannschaft mit einem 18er Robur-Bus unterwegs, im Gang vollgepackt mit Taschen, Bällen und allen Utensilien. Bei der „Pinkelpause“ musste der halbe Bus leer geräumt werden. Später kam ein „Nobel-Bus“, ein Ikarus mit Bruno Daske als Stammfahr und „mit Bier-Kühlung“, wir Wolfgang Heyer schmunzelnd berichtet. Um Gunter Funk, einem absolut Handball-Verrückten“ ranken sich viele Episoden, vielfach mit dem Vergessen seiner Kinder verknüpft. Wolfgang Heyer erinnert sich an eine abenteuerliche Fahrt mit Gunter Funk in dessen Trabant von Eisenach nach Mühlhausen „durchweg im 3. Gang“. Er sei „sacknass“ ausgestiegen“, so Wolfgang Heyer. Mit den Jahren wurden die sportlichen Resultate besser, auch weil das Automobilwerk als Träger seine Unterstützung erhöhte. Mit der 1984 eröffneten Sporthalle Katzenaue hatte Motor Eisenach auch endlich eine echte Heimspielstätte, war die Zeit der „auswärtigen Heimspiele“ in Mühlhausen und Erfurt vorbei. Das Team um Trainer Hans-Joachim Ursinus – und Physiotherapeut Wolfgang Heyer –  wurde „beste BSG“, beste Mannschaft hinter den ungeliebten Sportclubs, „Amateurmeister“, schaffte mehrfach den Einzug in die Endrunde des FDGB-Pokals.

Da gab es als Auszeichnung einen Betriebsferienplatz an der Ostsee. Da waren wir kleine Könige, schwelgt Wolfgang Heyer in seinen Erinnerungen.

Das bleibt haften: Karsten Wöhler auf der Raststätte vergessen
Nach der politischen Wende und der Wiedervereinigung 1989/90 galt es den Leistungshandball in Eisenach auf neue Füße zu stellen. Männer wie Hans-Joachim Alban, Dieter Kuhla, Rainer Osmann, Hans-Joachim Ursinus, Arnd Herrmann, Horst Rabe, Dieter und Ralf Illert sowie Günter Oppel legten sich ins Zeug, andere, wie Manfred Lindig, Günter Oßwald, Gerhard Sippel, Frank Seidenzahl und Peter Bock, kamen hinzu, um das Handball-Feuer am Fuße der Wartburg am Lodern zu halten. Sportlich und wirtschaftlich wurde viel Lehrgeld gezahlt. Die Kapitäne Michael Dubiel und Detlef Henkel blieben bodenständig. Matthias Allonge war der Leitwolf auf dem Parkett, verhinderte mit seinen Last-Minute-Treffern in Dortmund den Abstieg in die 3. Liga.  Wolfgang Heyer hielt zur Stange, begleitete das „junge Pflänzchen ThSV Eisenach“ mit all seinem Können und ganz viel Engagement. Hans-Joachim Ursinus, Nicolae Nedef, Rainer Osmann, Peter Rost  und Zlatko Feric hießen die Trainer.

Titel Raduta, das war ein Sportsmann vom Scheitel bis zur Sohle, charakterisiert er den Rumänen im rechten Rückraum, später zum „Spieler des Jahrzehnts“ gewählt. Die ausländischen Spieler haben zu  jener Zeit rasch Herz für Eisenach entwickelt, erklärt Wolfgang Heyer etwas wehmütig.

Jürgen „Bongo“ Beck führte den ThSV Eisenach im „gereiften Handballalter“ als Kapitän unter Leitung von Rainer Osmann als Trainer in die 1. Handballbundesliga. Nationale und internationale Handballkönner kamen in die verträumte Kleinstadt mit dem kulturellen Erbe einer Großstadt und einer langen Handballtradition: Jörn Schläger, Zdenek Vanek, Karsten Wöhler, Preben Vildalen, Stephane Joulin, Frode Scheie, Dragan Jerkovic, Eric Amalou und viele andere. Wolfgang Heyer begleitete sie alle, in der im Jahr 1997 erweiterten Werner-Aßmann-Halle und in den Hallen im gesamten Bundesgebiet. Er war sich auch nicht zu schade, vor Saisonbeginn jedem Spieler seine Tasche mit den Trikots zu packen. Der lebenserfahrene Mann war auch oftmals Kummerkasten und Ratgeber. An was er sich in der Nachwendezeit erinnert? Natürlich an die Episode, als Karsten Wöhler während einer Auswärtsfahrt auf einer Raststätte vergessen wurde. Während der Gratulation zum 80. Geburtstag wurde das natürlich zwischen Karsten Wöhler und Wolfgang Heyer nochmals „erörtert“.

Foto: Lebhaft berichtete Wolfgang Heyer (re.) aus seiner 45-jährigen Zeit als Physiotherapeut

Wolfgang Heyer, einer der nie im Rampenlicht stand, aber enorm wichtig war
Nach einer Schulterverletzung einhergehend mit einer Operation unterstützte ab dem Jahr 2003 Martin Münzberg Deutschlands dienstältesten Physiotherapeuten. Wolfgang Heyer verabschiedete sich im Jahr 2005  nach 45-jährigem Wirken in den Ruhestand. War Not am Mann, sprang er freilich noch mal ein.

Der kleine Mann mit den goldenen Händen hat im Hintergrund ein gehöriges Stück Eisenacher Handballgeschichte tatkräftig begleitet. Einer der stillen Helfer, ohne die das Feuer nicht am Lodern zu halten wäre. Wolfgang Heyer bleibt ein stets gern gesehener Gast in der Werner-Aßmann-Halle!

Titelfoto: Manager Karsten Wöhler (re.) und Pressesprecher Thomas Levknecht (li.) überbrachten dem Jubilar beste Grüße und herzliche Glückwünsche.

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