Dramatische Lockdown-Folgen für Kinder und Jugendliche

Starke Zunahme von Gewalt und Missbrauch: Die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2020 spricht eine deutliche und überaus erschreckende Sprache: Im Vergleich zum Vorjahr wurden rund zehn Prozent mehr Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche registriert. Die Zahl der registrierten Misshandlungen von Schutzbefohlenen ist demnach auf rund 4.918 Fälle angestiegen, die von Kindesmissbrauch auf über 14.500 Fälle (plus 6,8 Prozent). Auch bei der Verbreitung und Herstellung sowie dem Erwerb und Besitz von Kinderpornografie ist im vergangenen Jahr eine dramatische Zunahme von 53 Prozent auf 18.761 Fälle festgestellt worden. Die Psychologin Katrin Gossow vom TÜV Thüringen sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den deutlichen Anstiegen und der Corona-Pandemie.

Auch aus der kürzlich vom Bundeskriminalamt (BKA) und dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vorgestellten Polizeilichen Kriminalstatistik geht hervor, dass es eine starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen durch die Minderjährigen selbst gebe. Hierbei haben sich die angezeigten Fälle von Kindern und Jugendlichen, die insbesondere in sozialen Netzwerken sexualisiertes Material verbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten seit 2018 mehr als verfünffacht. Die Dunkelziffer dürfte aber auch hier noch weitaus höher liegen. Ein möglicher Grund für den rasanten Anstieg könnte die Corona-Pandemie sein. Leider hat sexuelle Ausbeutung von Kindern nicht nur in Deutschland zugenommen, auch internationale Untersuchungen bestätigen den negativen Trend:  Europol verzeichnete im ersten Corona-Lockdown einen Anstieg des Konsums von Missbrauchsabbildungen in Online-Medien um fast ein Drittel.

Für Katrin Gossow steht der Anstieg von Missbrauchsfällen und der Verbreitung kinderpornografischen Materials in einem direkten Zusammenhang zur Corona-Pandemie. Die Psychologin leitet die Rechtspsychologische Begutachtungsstelle des TÜV Thüringen und weiß, welche wichtige Rolle Psychologinnen und Psychologen bei der Überführung von Sexualstraftätern spielen. Die erschreckende Entwicklung begründet sie wie folgt:

Viele Menschen waren im vergangenen Jahr im Homeoffice oder in Kurzarbeit, haben dementsprechend viel Zeit zuhause verbracht, oftmals mit ihren eigenen oder den Kindern des Lebenspartners. Die Forschung zeigt, dass die meisten Sexualstraftäter Gelegenheitstäter sind. Während des Lockdowns mussten die Kinder zuhause betreut werden. Vielen Eltern drohten Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, andere litten unter Mehrarbeit. Diese zusätzlichen Stressoren in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren steigern die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Gewalt gegen Kinder im innerfamiliären Kontext, so die Rechtspsychologin.

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Für die zunehmende Verbreitung von pornographischem Material unter Jugendlichen sieht Katrin Gossow auch einen Mangel an sozialen Kontakten während der Pandemie als einen möglichen Grund.

Jugendliche entdecken ihre Sexualität in der Regel im Kontakt mit Gleichaltrigen. Dieses Entwicklungsbedürfnis konnte über einen langen Zeitraum nicht ausreichend erfüllt werden. Dass das pornografische Material dabei auch strafbare Handlungen beinhaltet, ist wiederum durch die Länge der Pandemie beeinflusst. Wir sehen bei der Befriedigung mit pornographischem Material häufig, dass mit der Zeit immer mehr und oftmals immer ‚krasseres‘ Material notwendig ist, um noch die gleiche sexuelle Befriedigung zu erreichen, berichtet Gossow.

Die Psychologin des TÜV Thüringen teilt die Befürchtungen des BKA, dass es Opfern von im privaten Umfeld verübten Taten besonders in Zeiten des Lockdowns schwergefallen sein könnte, sich Hilfe zu suchen. Kann das Opfer selbst keine Anzeige erstatten, so können zumindest in einigen Fällen mit Hilfe des verbreiteten Materials Täter oder Opfer identifiziert werden. Sollten durch die Angaben eines Kindes wiederum Personen beschuldigt oder mehrbelastet werden, kann es zu Aussage-gegen-Aussage-Situationen kommen. Den Richterinnen und Richtern an Gerichten kommt hierbei die schwierige Aufgabe der Einschätzung solcher kindlichen Aussagen zu. Je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes können diese Angaben sehr anfällig für äußere Einflüsse sein. Häufig kommen in den beschriebenen Fällen auch weitere psychische Beeinträchtigungen wie die Traumatisierung hinzu. Erfahrene Aussagepsychologen können in solchen Konstellationen wertvolle Hinweise bezüglich möglicher Einschränkungen oder Gedächtnisphänomenen wie der Ausbildung falscher Erinnerungen geben. Letztlich lässt die wissenschaftlich fundierte aussagepsychologische Methodik eine Beurteilung über die zugrundeliegende Erlebnisbasis zu den Angaben betroffener Kinder zu. Die qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Rechtspsychologischen Begutachtungsstelle des TÜV Thüringen legen deshalb größten Wert auf regelmäßige Qualitätskontrollen und die Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse.

 

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