Verstärkt die Pandemie Gewalt gegen Kinder?
Jüngste Erhebungen des Thüringer Landesamtes für Statistik machen einen schlimmen Trend sichtbar: Die Jugendämter in Thüringen mussten 2020 erneut mehr Einschätzungen der Kindeswohlgefährdung treffen als im Jahr zuvor. Bereits zu Beginn der Pandemie warnten Kinderschutzorganisationen und Psychologen vor einem möglichen Anstieg missbräuchlichen Verhaltens gegenüber Kindern, diese Befürchtungen scheinen sich nun bestätigt zu haben. Katrin Gossow von der Rechtspsychologischen Begutachtungsstelle des TÜV Thüringen beklagt, dass die Opfer pandemiebedingt noch schutzloser waren als in normalen Zeiten.
Für Diplom-Psychologin Katrin Gossow von der Rechtspsychologischen Begutachtungsstelle des TÜV Thüringen sind Fälle von Kindeswohlgefährdung trauriger Alltag. Die Bandbreite reicht von der Vernachlässigung der Fürsorgepflicht über psychische und körperliche Misshandlungen bis hin zu sexueller Gewalt. Katrin Gossow sieht den erneuten Anstieg bei den Kindeswohlgefährdungseinschätzungen der Jugendämter aber nicht nur als eine Folge der Corona-Pandemie:
Auf der einen Seite müssen wir feststellen, dass den Opfern aufgrund der Pandemie weniger Anlaufpunkte zur Verfügung standen. Viele Elternberatungsstellen und Jugendhilfeeinrichtungen, aber auch Kindergärten und Schulen waren lange Zeit geschlossen, sodass Kinder ihren überforderten oder gewalttätigen Eltern schutzlos ausgesetzt waren. Anderseits ist das Phänomen der Kindeswohlgefährdung keineswegs neu. Tatsächlich kommt es bundesweit schon seit Jahren zu immer weiter steigenden Zahlen bei den Kindeswohlgefährdungseinschätzungen, berichtet die Rechtspsychologin aus ihrem Begutachtungsalltag.
Katrin Gossow betont aber auch, dass die Anzahl der Meldungen zu einer spezifischen Gefahr und deren tatsächlichem Vorkommen nicht notwendigerweise zusammenhängt:
Zwar stieg die Anzahl von Kindeswohlgefährdungseinschätzungen aufgrund von Meldungen, gleichzeitig stieg aber auch die Zahl der Begutachtungen, bei denen keine Gefährdung und auch kein Hilfebedarf festgestellt wurden. Es ist also vor allem ein Anstieg an Meldungen von Kindeswohlgefährdungen zu verzeichnen, der eher für eine gestiegene Sensibilisierung der Bevölkerung spricht, erläutert die Psychologin.
Ob jedoch alle Meldungen bei den unter Corona teilweise eingestellten Hausbesuchen und der stark eingeschränkten Tätigkeit der Familienhilfe untersucht werden konnten, ist keineswegs sicher:
Unsere psychologischen Gutachterinnen und Gutachter mussten seit Beginn der Pandemie immer wieder feststellen, dass die Tätigkeit der Familienhilfe nahezu eingestellt wurde. Externe Betreuung durch Kindergärten, Schulen und Horte fielen als wichtiger Halteanker für manche Familien teilweise gänzlich weg. Familienhelfer und Jungendamtsmitarbeiter machten teilweise keine Hausbesuche mehr. All das wirkt sich natürlich unvorteilhaft auf die Situation betroffener Kinder aus, so Gossow.
Katrin Gossow glaubt, dass bei betroffenen Familien psychische Erkrankungen als Langzeitfolgen der Corona-Pandemie zurückbleiben werden. Jedoch schätzt sie diese Auswirkungen als viel subtiler ein. Auch werden diese für Dritte erst deutlich später sichtbar als zum Beispiel die Folgen brachialer Gewalt.
Die psychischen Folgen für Familien und vor allem für die Kinder sind nur schwer absehbar. Wenn Kinder beispielsweise in die Helferrolle geraten, haben sie größere Schwierigkeiten, wichtige Entwicklungsschritte zu durchlaufen. Betroffene Familien brauchen daher Langzeitunterstützung. Neben einem Unterstützungssystem wächst so auch eine Leidensgemeinschaft. Abhilfe sehen wir in niederschwelligen Angeboten und einer genaueren Abklärung psychischer Erkrankungen. Eine stärkere Präsenz psychologischer Fachkräfte vor allem in den Beratungsstellen wäre ein wichtiger erster Schritt, um dieser Entwicklung gegenzusteuern, glaubt die Rechtspsychologin des TÜV Thüringen.